„Ich habe Wanderlust“ singt Ebru alias Ebow in der Titelmelodie zu Uli Bez'
Dokumentarfilm „Töchter des Aufbruchs“, in dem es um eben diese Wanderlust, aber auch um Kraft, Schmerz und Verlust geht. BIM sprach mit der Regisseurin über ihren bewegenden
Film.
Frau Bez, wie kam die Idee zum Film?
Uli Bez: Ich sage immer: Die Filme, die ich gemacht habe, sind alle zu mir gekommen. 2009 ist der Frauennotruf München auf mich zugekommen mit der Idee für einen Film über Frauen und Migration für das Jahr 2010. Der Frauennotruf hatte noch zwei andere Regisseurinnen in der engeren Auswahl, hat sich dann aber schließlich für mich und mein Konzept entschieden.
Was ist denn Ihr Konzept?
Uli Bez: Mein Konzept ist der klassische Dokumentarfilm ohne journalistischen Kommentar, das heißt eine Begegnung auf Augenhöhe zwischen Stoff und Zuschauer. Anders als bei der Fernseh-Reportage oder dem Fernseh-Feature wird der Zuschauer nicht durch die Worte eines Kommentators beeinflusst, sondern wird von den Darstellern geleitet. Um ohne den journalistischen Kommentar auszukommen, bedarf es allerdings eines sehr genauen Drehbuchs. Es muss von vornhererein festgehalten werden, was gesagt werden soll.
Aber die Erzählungen der Protagonistinnen wirken so gar nicht eingespielt, im Gegenteil sie kommen sehr authentisch rüber...
Uli Bez: Das Drehbuch war nicht nur meine Arbeit, sondern ein Gemeinschaftsprojekt. Wir haben uns zweiwöchentlich getroffen und uns unterhalten. Ich habe mit jeder Frau ihre Geschichte durchgesprochen. Nach jedem Treffen habe ich ein bisschen Drehbuch geschrieben und es bei der nächsten Zusammenkunft vorgestellt. Manches wurde daraufhin gestrichen, andere Szenen haben die Begeisterung der Frauen gesteigert. Eine solche Szene war zum Beispiel die Klageszene – da sind sie richtig ausgeflippt.
Was ist die Klageszene? Und wieso war sie so wichtig für die Frauen?
Uli Bez: In der Klageszene beklagen die Frauen ihre verschiedenen Verluste: den Verlust ihrer Kinder und dauerhaft zerrüttete Familienverhältnisse, den Verlust ihrer Heimat... Die Klageszene ist die einzige Episode, in der der Schmerz in den Vordergrund rückt, der natürlich eine ganz wichtige Rolle spielt. Dadurch hatten wir im Rest des Films Platz für eine durchwegs positive, fast heitere Stimmung.
Wie ist es Ihnen gelungen trotz dieser tiefen Traurigkeit ein so heiteres Bild zu zeichnen?
Uli Bez: Wir haben von Anfang an gesagt, wir wollen keinen Jammerfilm, der nur von Problemen spricht. Der Film sollte keinen Vorwurf ausdrücken, sondern den Wunsch nach Veränderung. Ich habe die Frauen gefragt, wer den Film sehen soll und die Antwort lautete: Kinder und Jugendliche, Schulklassen, Deutsche und Menschen mit Migrationshintergrund. Also habe ich sie gebeten, sich diese Schulklassen vorzustellen und ihnen ihre Geschichte zu erzählen. Ich glaube, das war der entscheidende Griff. So wirkt es auch stärker als der bloße Vorwurf. Der Film ist ein Augenöffner, er ist ein gutes Instrument, um auf die Problematik aufmerksam zu machen. Er arbeitet mit Charme und Tiefgang.
Und was passiert mit dem Schmerz?
Uli Bez: Ich muss zugeben, als es ans Eingemachte ging – das konnte ich nicht vorausahnen. Bei manchen Frauen habe ich mich gefragt, wie sie überhaupt noch froh werden können. Wir haben aber auch festgestellt, dass große Übereinstimmung zwischen den Frauen herrschte – Vorwürfe von Seiten der Kinder, eine emotionale Kälte. Das war eine neue Erfahrung für die meisten – zu sehen, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind. Der Film hat sie nicht so viel Kraft gekostet, wie er ihnen gegeben hat. Sie sind von Mal zu Mal schöner geworden. Sie haben einfach gesehen, da ist jemand, der interessiert sich wirklich für mich. Diese Chance haben sie genutzt, um aus der Anonymität herauszutreten und eine Spur zu hinterlassen. Es sind Erfolgsgeschichten, die sie erzählen, trotz aller Schwierigkeiten.
Was hat die Frauen dazu bewogen, diese Schwierigkeiten auf sich zu nehmen und ihre Heimat zu verlassen?
Uli Bez: Das habe ich sie auch gefragt: Was war der Aufbruch? Und zu den Motiven zählte natürlich die Perspektivlosigkeit im Heimatland, aber auch Abenteuerlust, die Lust aus traditionellen Strukturen auszubrechen und sich die Freiheit um die Nase wehen zu lassen.
Wieso heißt der Film dann „Töchter des Aufbruchs“ und nicht etwa „Töchter des Ausbruchs“?
Uli Bez: Der Anfangstitel hieß ja: „Großmütter und Enkelinnen aus unterschiedlichen Ländern berichten von ihren Migrationserfahrungen von den 60er Jahren bis heute“. Der aktuelle Titel nimmt jedoch Bezug auf die Industrialisierung in den 1960er Jahren. So gesehen bin ich auch eine Tochter des Aufbruchs. In den Sechzigern sind die Chancen für junge Frauen gestiegen, da gab es plötzlich die Möglichkeit auszubrechen, hier war die Urzelle der Frauenbewegung. Ich habe auch viele Gemeinsamkeiten entdecken können: Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, Kampf um Bildungschancen und um die Bildungschancen der Kinder.
Wie bewerten sie denn die Aufnahme-, die deutsche Gesellschaft?
Uli Bez: Das ist nicht das Deutschland, das ich gerne sehen würde. Die Ausländerfeindlichkeit ist eine Art politischer Spielball, ein Gewicht, das man immer wieder reinwerfen kann. Es ist eine Art politisches Kalkül, Leute gegeneinander aufzuhetzen und dadurch zu beherrschen. Um Integration und Inklusion muss man hier kämpfen, es ist eine Wolfsgesellschaft.